In einer Gesellschaft, in der künstliche Agenten wie persönliche Assistenten oder Haushaltsroboter weit verbreitet sind, müssen künstliche und menschliche Akteure im alltäglichen Handeln aufeinander Rücksicht nehmen. Damit diese Rücksichtnahme nicht nur einseitig von den Menschen erbracht wird und damit technische Prozesslogiken soziotechnisches Agieren prägen, müssen künstliche Agenten kulturspezifische, sozial angemessene Umgangsformen lernen. Solche Umgangsformen sind zeitlich und räumlich zwar flexibel, verfestigen sich aber, um handlungsorientierend wirken zu können, in verhaltensbezogenen Kulturtechniken.
Kulturtechniken, gesellschaftspraktische Normen und Konventionen regeln weite Bereiche der sozialen Angemessenheit von Interventionen in sozial geteilten Handlungszusammenhängen. Etwa wann Entschuldigungen, Grüße, Glückwünsche, Maßregelungen oder andere soziale Praktiken und Rituale angebracht sind. Wenn Assistenzsysteme weit verbreiteter Teil alltäglicher Handlungszusammenhänge werden und dabei die Menschen sich nicht gänzlich der Dreistigkeit unverzüglicher Aufmerksamkeitsforderungen seitens der intervenierenden Assistenten beugen müssen sollen, dann müssen Assistenzsysteme soziale Umgangsformen lernen. dann werden Kulturtechniken zum unerlässlichen Teil heutiger künstlicher Intelligenz (KI) und Assistenzsystemforschung. Sozial angemessenes Verhalten kann (in vielen Kontexten) als Höflichkeit bezeichnet werden: daher der Projektname „poliTE (für polite technology, ‚höfliche Technik‘) – Soziale Angemessenheit für Assistenzsysteme“.
Solche kulturtechnisch sensiblen, „höflichen“ Assistenzsysteme zu gestalten, ist eine äußerst komplexe Aufgabe, die durch Vorlaufforschung, Forschungsförderung und Kompetenznetzwerkbildung erst ermöglicht werden muss. Unsere Kulturtechniken prägen so die Systemgestaltung; gelingendes Zusammenleben mit höflichen Assistenzsystemen prägt im Gegenzug die Umgangsformen dieser hybriden Gemeinschaften. Reichen wir z. B. Robotern die Hand?
„In einer Gesellschaft, in der künstliche Agenten wie persönliche Assistenten oder Haushaltsroboter weit verbreitet sind, müssen künstliche und menschliche Akteure im alltäglichen Handeln aufeinander Rücksicht nehmen.“
(B. Gransche)
Kultur – Technik – Kulturtechnik
Kultur, Technik und Kulturtechnik befinden sich in einem komplexen hochwirksamen Wechselspiel. Unter Kulturtechniken werden hier zweckgerichtete, körpergebundene Verfahren (Techniken) zum Umgang mit Symbolischem verstanden. Verbeugung, Handschlag oder Lächeln etwa sind körperliche Routinen, die etwas Abstraktes (z. B. soziale Anerkennung, Freundlichkeit) manifestieren und symbolisch kommunizieren (Maye 2010; Krämer 2004). Diese Verfahren sind essenziell für das Gelingen sozialer Interaktion. Doch bevor Ingenieure sozial-sensitive Agenten gestalten können, müssen die Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften erforschen, welche verhaltens-, interaktions-, kooperations- und kommunikationsbezogene Kulturtechniken wir fordern und beherrschen, welchen Spielraum wir für sozial akzeptabel halten und welche Einzelfaktoren die Bewertung sozialer Angemessenheit beeinflussen. Dies lässt sich wiederum nicht allgemein, sondern für spezifische Handlungskontexte erforschen. Deshalb muss die Herausforderung „höflicher Assistenzsysteme“ interdisziplinär angegangen werden.
Assistenzsysteme erobern zunehmend den Alltag der Menschen: Lernfähige persönliche Assistenten, KI-Agenten, die auf Smartphones (Siri, Cortana) oder auf Assistenzgeräten wie Echo (Amazon 2016) und Jibo (Jibo 2016) laufen oder sogenannte soziale Roboter wie Pepper (Aldebaran Robots 2016), stehen an der Schwelle zum gesamtgesellschaftlichen Alltagsphänomen wie es Mobiltelefone bereits sind. Dabei ist Assistent nur eine von vielen Rollen, die neuen technischen Systemen in der Gesellschaft zugedacht werden; Butler, Coach, Freund, Begleiter (Böhle und Bopp 2014), Beschützer oder Schutzengel (GA Project 2012), Spielgefährte, Trainingspartner, „einfühlsamer Zuhörer“ (Schroder et al. 2009), sozialer oder intimer Partner sind weitere.
All diese Systeme greifen in unsere etablierten Handlungszusammenhänge ein. Wenn unser Alltag künftig umfassend mit intelligenter Assistenztechnologie durchdrungen ist, wird es vor allem eine Frage der technischen Umgangsformen sein, ob diese Zukunft ‚menschlich‘ gestaltet sein wird. Ein technischer Assistent benötigt Informationen über die aktuelle Situation und ein kulturtechnisches Einschätzungsvermögen darüber, wann und in welcher Form eine Unterbrechung adäquat ist. Von der Passung dieser Einschätzung hängt ab, ob er den richtigen Moment, Ton und Modus findet.
Wie können wir künstlichen Assistenten diese Umgangsformen beibringen? Schließlich gibt es auch zwischen Menschen enorme interindividuelle Unterschiede, was deren Beherrschung angeht. Die bestehenden Profile Normal, Lautlos und Flugzeugmodus sind jedenfalls für künftige Assistenzsysteme nicht ausreichend und wir werden differenziertere benötigen – aber welche? Formell, Auf der Arbeit unter Kollegen, Auf der Arbeit mit (internationalem) Kundenkontakt, Privat Familie, Privat Partnerschaft, Privat Freunde, Privat gute Freunde, Privat Freunde von früher, Unter Bekannten per Sie, Unter Bekannten per Du, Unter Bekannten per Du, aber formell (amerikanische Anrede), …? Und welche Anforderungen an Interventionsdichte, Kanal, Timing etc. wären mit den jeweiligen Profilen verbunden? Sollten soziale Haushaltsroboter uns z. B. die Hand reichen und wem bei Gruppen von Gästen zuerst? Wem reichen wir in welcher Folge die Hand, wenn wir eine Gruppe von Menschen treffen: dem Bekannten oder der wichtigsten Person zuerst, Ladies first oder reihum? Dürfen wir und darf ein Roboter jemandem den Handschlag verweigern? Darf ein autonomes Fahrzeug einen unsicheren Fahrradfahrer entgegen der StVO passieren lassen, anstatt ihn regelkonform in eine kritische Situation zu bringen?
Die Beantwortung solcher Fragen ist hoch relevant für das Gelingen von Mensch-Technik-Interaktion. Sie ist aktuell, aber äußerst voraussetzungsreich. Künftigen Assistenzsystemen Umgangsformen, Kulturtechniken oder die Fähigkeit zur Einschätzung und Berücksichtigung sozialer Angemessenheit beizubringen oder sie diese lernen zu lassen, wird ein wichtiger Schritt dazu sein, die hybride Gesellschaft, die aus Menschen und technischen Agenten besteht und in der beide in komplexen Handlungszusammenhängen inter- oder koagieren (Gransche et al. 2014), ‚menschlich‘ zu gestalten.“
Ziele
Ziele von poliTE – Übersicht:
Ziel des Projekts poliTE ist die interdisziplinäre Analyse der Grundlagen und Rahmenbedingungen für eine neue Generation von „höflichen“ Assistenzsystemen sowie die Vernetzung der dafür nötigen Forschungsgemeinschaft.
Die Verbundpartner aus Philosophie, Ethik und Psychologie untersuchen soziale Angemessenheit und verhaltensbezogene Kulturtechniken, die Technikgestaltung/-forschung von fortgeschrittenen Assistenzsystemen und diskutieren die Erkenntnisse mit den jeweils relevanten Kernakteuren.
Zur sozialen Angemessenheit in Mensch-Mensch-Interaktionen wird eine umfassende, sozialpsychologisch und philosophisch fundierte Bestandsaufnahme erarbeitet, synthetisiert und nach Maßgabe möglicher Anschlussfähigkeit und Übertragbarkeit für Mensch-Technik-Interaktionen (MTI) restrukturiert. Mit den deutschen MTI-GestalterInnen werden aktuelle Bedarfe für sozial-adaptive Systeme erhoben und Lösungspotenziale, weitere Forschungs- und Förderdesiderata herausgearbeitet.
poliTE vernetzt Geistes- und Kulturwissenschaften mit der sozialen Robotik und Assistenzsystemgestaltung, um die Akteure für Phänomene der sozialen Angemessenheit in der MTI zu sensibilisieren. Dies soll interdisziplinäre MTI-Folgeprojekte zur Wirkung und Akzeptanz von ‚höflich‘ gestalteten Assistenzsystemen anregen. Langfristig soll poliTE Forschung anstoßen, die kulturadaptive, sich sozial angemessen verhaltende Assistenzsysteme weiterentwickelt, um neue, ‚höfliche’ Formen der MTI zu ermöglichen.
Neben dieser Erhebung, dem Synthetisieren und interdisziplinären Transfer zielt poliTE auf die Vernetzung zweier Forschungsgemeinschaften (den Sozial-, Geistes-,Kulturwissenschaften und den Technikgestaltern) sowie deren Sensibilisierung für Phänomene der sozialen Angemessenheit hybriden Verhaltens. Ziel ist es, interdisziplinäre MTI-Folgeprojekte zu ermöglichen, die z. B. am Faktor social importance untersuchen, wie sich die gezielte Gestaltung höflicher Assistenzsysteme auf deren Performance und Passfähigkeit im Alltag auswirkt. Zudem soll langfristig Forschung angestoßen werden, die kulturadaptive, sich sozial angemessen verhaltende Assistenzsysteme entwerfen kann, welche dann in interkulturellen Anwendungsgebieten adäquateres leisten und zu zukünftig ‚menschlicheren‘ Interaktionsformen führen.
„We don’t all carry an etiquette handbook, but everyone seems to know good manners. Although violations exist, most people are polite most of the time.“
(Reeves und Nass)
Ziele von poliTE – konkret:
Akteurs-/Themenanalyse zu: sozial angemessenes Verhalten und verhaltensbezogene Kulturtechniken allgemein bzw. zwischen Menschen (mit Fokus der Übertrag- und Anwendbarkeit auf MTI).
Akteurs-/Themenanalyse zu: Fortgeschrittene Assistenzsysteme, Technikgestaltung aktueller/prototypischer MTI-Konstellationen (z. B. virtuelle Agenten, soziale Robotik), die an der Schwelle stehen, sozial angemessenes Verhalten zu implementieren.
Transfer der Kulturtechnikanalyse in eine Form, die bei konkreter MTI-Forschung und MTI-Gestaltung operativ aufgegriffen werden kann.
Dissemination der Erkenntnisse zur weiteren wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion. Stärkung des „Technik zum Menschen bringen“-Ansatzes.
Promotionsvorhaben: Durch das Projekt werden insgesamt drei Promotionsvorhaben ermöglicht, die in den Disziplinen Sozialpsychologie, Philosophie, Kulturwissenschaften durchgeführt werden.
„Aus philosophischer Perspektive interessiert mich an poliTE insbesondere die Frage nach möglichen -möglichst allgemeinen- Kriterien sozial angemessenen Verhaltens in neuen Mensch-Technik-Interaktionen“
(S. Nähr)
Ziele von poliTE – allgemein:
Zentrale MTI-Arbeit: poliTE übernimmt in einer Querschnittsfunktion Aufgaben, die in vielen experimentellen Projekten anfallen, dort aber oft nicht mit genügend Ressourcen versehen werden können. So wird die Perspektive menschzentrierter MTI gestärkt und langfristig der Ermöglichung sozial kompetenter technischer Systeme (z. B. Assistenzsysteme, soziale Roboter etc.) gedient.
Forschungsermöglichung: empirische Erforschung z. B. von social importance dynamics in MTI kann auf die Ergebnisse von poliTE aufsetzen.
Community-Building: Identifizierung/Vernetzung von Wissenschaftlern, einerseits aus verschiedenen Bereichen der Forschung zu sozialem Verhalten/ verhaltensbezogenen Kulturtechniken und andererseits der Forschung zu sozial-/kultur-/emotionssensitiven Systeme.
Ablauf

⦁ Arbeitspaket (AP) 1: Konzeptentwicklung
Definition der zu untersuchenden Phänomenextension; Konzeptentwicklung zu Vorgehen, Methodik und Zeit-/Veranstaltungsplan.
⦁ AP2: State-of-the-Art: Soziale Angemessenheit
Das Arbeitspaket 2 zielt ausgehend von sozialpsychologischer Expertise darauf ab, einen Überblick über die interdisziplinäre Forschung zu sozialer Angemessenheit, verhaltensbezogenen Kulturtechniken und zu den Kernaspekten der Eindrucksbildung und sozialen Urteilsbildung zu liefern. Die leitende Frage lautet: Wann wird welches Verhalten von wem als sozial angemessen bewertet und in welchen Kulturtechniken hat sich dieses implizite Wissen sedimentiert? Zur Klärung dieser Frage werden eine Themenanalyse, eine Akteursanalyse und ein Experten-Workshop durchgeführt sowie zur gezielten Vertiefung Expertengutachten eingeholt.
⦁ AP3: Quintessenz: Soziale Angemessenheit für MTI
Das Arbeitspaket 3 hat eine zentrale Scharnierfunktion: Die gesamten Ergebnisse aus AP2 werden ausgewertet, zusammengefasst und nach Übertragbarkeit/Anknüpfungsmöglichkeiten für Mensch-Technik-Interaktionen restrukturiert. Während AP2 in die Breite forscht und ein umfassendes Bild erstellt, dient AP3 dazu, dieses Bild auf mögliche Bedarfe seitens der Technikgestalter zuzuschneiden und so die Anschlussfähigkeit für die Workshops in AP4 zu generieren.
⦁ AP4: Aktuelle Bedarfe: Fortgeschrittene Assistenzsysteme
Das Arbeitspaket 4 hat eine ähnliche Zielsetzung und Methodik wie AP2, jedoch mit anderer inhaltlicher Ausrichtung: Es zielt darauf ab, die aktuellen Schwerpunkte und Themen der wissenschaftlichen Community bezüglich der nächsten Generation von prototypischen, sozial intervenierenden Assistenzsystemen zu erörtern. Der Fokus liegt hierbei auf den Herausforderungen sozial angemessenen Umgangs. Die zentralen Leitfragen lauten: Welche Assistenzsysteme stehen an der Schwelle fortgeschrittener sozialer Interaktion? Wer erforscht/gestaltet diese? Inwieweit werden Aspekte sozialer Angemessenheit/verhaltensbezogener Kulturtechniken berücksichtigt? Was wären Bedarfe, diese Dimension hier fundierter einbeziehen zu können? Dazu werden eine Akteurs- und Themenanalyse durchgeführt und entsprechende Kernakteure identifiziert, aus denen wiederum für die zwei Workshops zu „Fortgeschrittene Assistenzsysteme“ und zu „Roboter für Assistenzfunktionen: Interaktionsstrategien“ in diesem Arbeitspaket eingeladen wird.
⦁ AP5: Ethische Herausforderungen: Soziale Assistenzsysteme
Der Ansatz, soziale Angemessenheit und verhaltensbezogene Kulturtechniken zu untersuchen und der Mensch-Technik-Interaktions-Gestaltung zugänglich zu machen, beruht auf voraussetzungsreichen Grundannahmen, die bei unreflektiertem Umgang ggf. zu unzulässigen Bereichsüberschreitungen führen könnten. So werden im Arbeitspaket 5 zwei kritische ethische Analysen der Ergebnisse der anderen Arbeitspakete erarbeitet. Erstens geht die Analyse Kritik der sozialen Angemessenheit dabei der Frage nach, welche normativen Gehalte dem Konzept der „Sozialen Angemessenheit“ und implizit in den erarbeiteten verhaltensbezogenen Kulturtechniken zugrunde liegen. Sie hinterfragt kritisch, ob und in welchen Grenzen aus einem Stand geltender sozialer Angemessenheit ein Imperativ zur Verstetigung desselben über Systemgestaltungsentscheidungen folgen kann. Zweitens prüft die Analyse Kritik „Höflicher Technik“ inwieweit derzeitige Auffassungen, Gestaltungsansätze, Metaphern – aber auch reflexiv die Kernannahmen von poliTE – problematische Technikverständnisse suggerieren, etwa. einer unter Umständen problematischen Anthropomorphisierung sozial-intervenierender Systeme?
⦁ AP6: Synthese, Ergebnisgenerierung
Im Arbeitspaket 6 wird erstens ein umfassender Endbericht über die Arbeit und Ergebnisse des Projektes erarbeitet. Zweitens soll hier ein Handbuch „Sozial angemessene Assistenzsysteme“ erarbeitet werden, das speziell für den schnellen gestaltungsorientierten Einsatz konzipiert wird. Es soll aktuellen sowie folgenden Projekten zu fortgeschrittenen Assistenzsystemen ermöglichen, den Schwerpunkt von poliTE in der Gestaltung und Erforschung künftiger Systeme und Forschungsprojekte zu berücksichtigen.
⦁ AP7 Dissemination:
Wissenschaftliche und öffentlichkeitsadressierte Disseminationstätigkeiten wie Publikationen, Vorträge, poliTE-Projektwebseite, etc.
⦁ AP8 Projektmanagement